Film

Die Wohnung (2011)

Mitten im Kino-Sommerloch gibt es tatsächlich noch einige wenige Filmperlen zu entdecken! Der Dokumentarfilm Die Wohnung des israelischen Filmemachers Arnon Goldfinger ist eine solche. Die Dokumentation beginnt recht alltäglich: Tel Aviv, die 98-jährige Großmutter ist gestorben und Arnon Goldfinger kümmert sich gemeinsam mit seinen Verwandten um ihren Nachlass. Was sich da alles so im Laufe ihres Lebens angehäuft hat: eine riesige Ansammlung von edlen Handschuhen, Briefe, allerlei Dokumente, teilweise mutet das sehr skurril an, was da alles aus Schubladen und Schranktüren quillt. Doch inmitten des heillosen Durcheinanders stößt Goldfinger plötzlich auch auf ein ganz besonderes Geschichtsdokument: einen Zeitungsausschnitt von 1933 aus einer der übelsten Nazi-Tageszeitungen überhaupt! Und das bei seinen Großeltern? Weiß er wirklich so viel über diese, wie er immer dachte? Mit viel Elan begibt er sich auf eine spannende Reise in die Vergangenheit und durchstöbert seine eigene Familiengeschichte. Nicht immer trifft er da auf das Wohlwollen seiner Verwandten, die einiges doch lieber da behalten wollten, wo es ihrer Meinung nach hingehört: unter den Teppich! Selbst seine eigene Mutter scheint wenig angetan von seinen Recherchen: „Die Vergangenheit interessiert mich nicht. Wir leben in der Gegenwart“, sagt sie an einer Stelle zu ihrem Sohn.

Arnon Goldfingers Film nimmt einen als Zuschauer mit auf diese faszinierende Suche nach verborgenen Familiengeheimnissen und entfacht eine wahre detektivische Spannung. Immer kommt noch ein Puzzlestück hinzu, lässt sich zunächst nicht einordnen, doch dank Goldfingers unerschüttlichen Forschungsdrangs wird das Bild immer deutlicher. Er wird herausfinden, dass seine Großeltern eine innige Freundschaft mit dem Kommandanten des SS-Judenreferats Baron Leopold von Mildenstein und dessen Ehefrau pflegte. Er wird erfahren, dass auch in seiner eigenen Familie viel verdrängt und verschwiegen wurde, so etwa die Ermordung seiner Urgroßmutter im KZ. Unfassbar! Doch Goldfinger lässt nicht locker, um selbst in diese für ihn nicht im Geringsten nachvollziehbaren Kapitel seiner Familiengeschichte Licht zu bringen. Er trifft Mildensteins Tochter, die ihren eigenen Vater keineswegs als Nazi ansieht, vielmehr jegliche Tätigkeiten ihres Vaters als hochrangiges Tier der SS vehement abstreitet: „Mein Vater war Journalist!“ beharrt sie auf ihrer Meinung, selbst als Goldfinger ihr einen doch sehr eindeutigen Beleg seiner Parteitätigkeiten unter die Nase reibt.

Schnell entfaltet sich ein ganzer Fragenkomplex, der einen auch als Zuschauer zum Nachdenken anregt: Wie viel möchte man überhaupt über die Geheimnisse von Verwandten wissen? Möchte man sich damit belasten und sich das liebevolle Bild, das man von ihnen hat, kaputt machen? Und, wie an einer Stelle eine Freundin von Arnon Goldfingers Großmutter sehr treffend äußert: „Warum stellt immer erst die dritte Generation Fragen? Die zweite Generation schweigt, aber erst die dritte Generation stellt Fragen!“ Vermutlich eben genau deshalb, weil es für das eigene Gewissen einfacher ist, weniger zu wissen und Unangenehmes zu verdrängen. Umso bewundernswerter, dass Arnon Goldfinger den Mut hatte endlich Fragen zu stellen und seine Entdeckungen in diesem bemerkenswert gut recherchierten Dokumentarfilm verarbeitete – auch eine Form der Vergangenheitsbewältigung!

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    2 KOMMENTARE

  • […] Ansonsten war ich am Anfang der Woche im Kino (siehe Foto oben) und habe mir den Dokumentarfilm “Die Wohnung” angeschaut. Eine echte Filmperle im derzeitigen Kino-Sommerloch. Die Rezension gab’s und gibt’s hier zu lesen. […]

  • Sidenstein 19. Juni 2012 Reply

    Ein wunderbarer Film über eine außergewöhnliche Freundschaft zwischen 2 unterschiedlichen Menschen. Ganz großes Kino!

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