Film

Lenin kam nur bis Lüdenscheid

Story in vier Sätzen: Der Autor Richard David Precht erinnert sich an seine Kindheit in den wechselvollen 60er und 70er Jahren. Seine Solinger Familie behauptete einen linken Kosmos mitten im Feindesland: Amerikanische Taschenrechner und Coca-Cola waren verboten, stattdessen wurden antikapitalistische Lieder angestimmt. Schon bald entwickelt der junge Precht eine ganz eigene Sicht auf die Welt.

Wie war’s: Autor Richard David Precht und Regisseur André Schäfer bedienen sich in Lenin kam nur bis Lüdenscheid des Mittels der Dokumentation, um den Merkwürdigkeiten der Kindheit im linken Elternhause Prechts auf die Spur zu kommen. Seine beiden vietnamesischen Adoptivgeschwister kommen ebenso zu Wort wie seine leibliche Schwester und sein Vater. Diesen aktuell gedrehten Aufnahmen werden historische Filmdokumente der Familie und aus verschiedenen Archiven entgegen geschnitten. Kommentiert wird das Material aus der naiv-kindlichen Sicht des jungen Richard David (und das durchgängig über 25 Lebensjahre hinweg, was etwas kurios wirkt). Dies gibt dem Film den Charakter einer autobiografischen Diavorführung. Immer wieder werden weltpolitische Ereignisse wie der Vietnamkrieg oder der Start der Sputnik-Rakete gegen die persönlichen Aufnahmen montiert. Während in Berlin Wasserwerfer auffahren, singt Heintje stellvertretend für das Establishment „Mama”. Gerade zu Beginn sorgt dies für Verwirrung: Der Kommentar schildert ausführlich die Zerstörungskraft amerikanischer Bomben in Vietnam und einen Schnitt weiter ist wieder das unverfängliche Familienleben zu sehen. Doch dann wird die Zielrichtung klar: Vor dem Krieg formiert sich die Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und mit ihr die 1968er Revolte in Berlin, Frankfurt und anderen Großstädten. In Solingen bekommt man davon nicht viel mit, aber die Familie pflegt ohnehin ihren ganz eigenen „progressiven” Lebensstil, der sich nicht immer mit der offiziellen Politik trifft.

Die Prechts adoptieren in dieser Zeit zwei Kriegskinder aus Vietnam, tauschen sich mit anderen Adoptiveltern aus. Eine Gemeinschaft entsteht, in der anti-autoritäre Erziehungsformen erprobt werden. Mit zweifelhaftem Erfolg, wie Precht und seine Schwester im Gespräch feststellen: Man wusste nie genau, was jetzt warum verboten war und was aus dem gleichen Grund nicht. Spöttisch stellen die beiden fest, dass ihre Eltern zudem die sexuelle Revolution anscheinend verschlafen haben. „Ziemlich hausbacken” sei das gewesen, erinnert sich Richard David. Zu Pfingsten ging es ins Zeltlager der DKP, der Schulausflug in den Heidepark blieb verboten. In die heitere Retrospektive mischen sich kritische Untertöne: Ein ehemaliger Mathelehrer Prechts wirft der Mutter vor, ihre ideologischen Ansichten auf dem Rücken der Kinder ausgetragen zu haben. Doch zur Konfrontation kommt es nicht: Richard Davids Mutter will sich im Film nicht äußern. Ganz anders sein Vater, der augenscheinlich mit der damaligen Zeit abgeschlossen hat und seine Überzeugungen von früher heute kritisch beurteilt.

Man kann Lenin kam nur bis Lüdenscheid durchaus vorwerfen, nicht konfrontativ genug zu sein. So bleiben des Öfteren Aussagen unkommentiert im Raum stehen, dem Geschichtspuzzle fehlen wichtige Teile. Warum ging die Familie nicht in die DDR? Wie kam es zu dem Umzug ins spießige arbeiterferne Reihenhaus? Hat Precht in seiner Jugendzeit die Lobeshymnen seiner Umgebung auf den Sozialismus nie kritisch reflektiert, wie er uns weismachen will? Persönliche und gesellschaftliche Erinnerung vermischen sich in dem Film, doch gerade in den 1980er Jahren bröckelt das Familienbild. Es kommt zur Trennung zwischen Vater und Mutter, was Richard David in dieser Zeit macht, bleibt hingegen unklar. So wirken denn auch Mauerfall und Wende eher drangehängt. Der 25-jährige Richard David begegnet dem Strom der Ostdeutschen in den Westen mit Erstaunen: Da scheint etwas gewaltig schief gelaufen zu sein!

Lenin kam nur bis Lüdenscheid ist ein unterhaltsamer, ironischer Film über die Kindheit in einer linken 68er-Familie und zugleich ein persönliches Portrait des Autors Richard David Precht. Erst vierzig Jahre sind die Proteste in der BRD her und doch wirken sie für unsere heutige Generation seltsam fern und in Teilen sogar absurd. Die 68er sind mit ihren politischen Zielen gescheitert, auf kultureller Ebene haben sie hingegen einen tiefgreifenden Wandel hervorgerufen. André Schäfers Film beleuchtet die wechselvolle Zeit aus einer neuen Perspektive. Lenin schaffte es mühelos bis nach Solingen – wenn auch nicht in Person.

Monolog

Richard David Precht im Vorspann des Films:
„Als ich Kind war, dachte ich, dass sich die Cowboys und Indianer im Fernsehen wirklich erschießen.
Als ich Kind war, dachte ich, dass einem ein Kirschbaum im Bauch wächst, wenn man einen Kirschkern verschluckt. Als ich Kind war, dachte ich, dass alle Amerikaner böse sind. Mit Ausnahme der Neger.”

Lenin kam nur bis Lüdenscheid läuft am Dienstag, dem 23. Juni um 22:45 Uhr in der ARD.

 

Diverse reichlich nutzlose Fakten:
Regisseur:
André Schäfer
Richard David Precht: Hat Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Köln studiert und auch das gleichnamige autobiografische Buch zum Film geschrieben
Zusatzmaterial: Im Youtube-Kanal von Florianfilm kann man sich Statements zum Film von André Schäfer und Richard David Precht anschauen.
Provopoli: Ein strategisches Brettspiel, welches Prechts Eltern zur Wohnungseinweihung von linken Freunden geschenkt bekamen. Zwei Teams kämpfen gegeneinander: Die rote Gruppe will mit Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden und Gefangenenbefreiungen die Stadt übernehmen. Die blaue Gruppe (Polizei) soll das – mit ungleich stupideren Mitteln – verhindern. Provopoli ist in Bayern indiziert. Kurzes Zitat aus der Anleitung: “Provopoli spielen, könnte bedeuten: Anfangen, ein Spiel zu verändern. Ein Spiel zu verändern könnte bedeuten: Anfangen, die Verhältnisse zu untersuchen. Die Verhältnisse zu untersuchen könnte bedeuten: Anfangen, die Widersprüche zu erkennen. Die Widersprüche zu erkennen, könnte bedeuten: Anfangen zu handeln. Wir meinen: Mit einem Spiel anfangen ist besser als nie anfangen.” – Sammlung des DHM

Lukas

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