Schnee, nichts als Schnee und Eis. Unweit des Polarkreises inmitten dieser unwirtlichen Kälte, in der norwegischen Kleinstadt Hammerfest, hat sich eine deutsche Familie gerade erst eingerichtet, um einen Neuanfang zu wagen. Der Vater Niels (Jürgen Vogel) hat eine Stelle als Ingenieur angenommen, seine Frau Maria (Birgit Minichmayr) arbeitet in einem Hospiz, ihr gemeinsamer Sohn Markus versucht sich mit Müh und Not in der Schule einzuleben. Familienglück sieht anders aus: Niels betrügt Maria schon länger mit einer Arbeitskollegin, Maria selbst kann kaum für ihre Familie da sein, da sie von ihrer Chefin immer wieder Nachtschichten aufgedrängt bekommt – und nicht zuletzt befindet sich Sohn Markus gerade in einer sehr schwierigen Phase. Statt sich mit gleichaltrigen Mitschülern zu treffen, vertieft er sich immer mehr in Traumwelten, indem er etwa mit der Videokamera den norwegischen Alltag dokumentiert.
Kurz gesagt: In dieser Familie reden und leben alle aneinander vorbei. Jeder macht sein Ding und interessiert sich nur wenig, was die anderen denken und fühlen. Dieses sowieso schon äußerst fragile Beziehungsgeflecht wird gehörig auf die Probe gestellt, als Maria in der dunkelsten Nacht des Jahres, der Polarnacht, einen Autounfall hat. Völlig aufgelöst gesteht sie ihrem Mann: Sie hat jemanden angefahren. Und statt anzuhalten, ist sie einfach weitergefahren. War es ein Hund? Oder – weitaus schlimmer – ein Mensch? Maria, noch völlig unter Schock stehend, kann ihr eigenes Handeln nicht fassen. Was, wenn sie einen Mensch getötet hat…? Niels fährt in derselben Nacht nochmal an die Unfallstelle, schaut sich gründlich um – doch nichts zu sehen! Erst Tage später erlangen sie durch einen Zeitungsbericht die unfassbare Gewissheit: ein 16-jähriges Mädchen wurde in der Polarnacht von einem Auto angefahren, konnte sich zwar danach noch von der Straße retten, erlag später jedoch ihren schweren Verletzungen.
Niels und Maria befinden sich in einem unausweichlichen moralischem Dilemma. Soll Maria sich stellen? Zugeben, dass sie Fahrerflucht begangen und das Leben eines jungen Menschen auf dem Gewissen hat? Aber was soll dann aus ihrer neuen Existenz werden? Würde es sich in der kleinen norwegischen Stadt nicht doch sehr schnell herumsprechen, was sie getan hat? Maria denkt vor allem an ihre Familie, in erster Linie an ihren Sohn Markus: „Er wird für immer der sein, dessen Mutter das Mädchen überfahren hat und sterben hat lassen.“ Schweren Herzens entscheiden sich Niels und Maria dafür zu schweigen, Gras über die Sache wachsen zu lassen, abzuwarten. „Früher oder später werde ich damit klarkommen. Ich muss damit klarkommen“, stellt Maria fest und in ihrem Gesicht zeichnet sich tiefe Verzweiflung ab.
Denn, geht das wirklich? Wie lebt es sich, wenn man Tag für Tag Menschen begegnet, die die Tote gekannt haben und tiefe Trauer über diesen Verlust empfinden? Wie lebt es sich, wenn man mit den Eltern des toten Mädchens im Kirchenchor singt? Wie kann man ihnen jemals wieder aufrichtig in die Augen sehen? Matthias Glasners Drama „ Gnade“ stellt sich diesen Fragen und zeigt die tiefe Zerrissenheit der Hauptfiguren, die sich für das Schweigen entschieden haben und mit ihrer Schuld leben müssen. Vor allem Birgit Minichmayrs Schauspiel geht tief unter die Haut. Mit beeindruckendem psychologischem Feingespür verkörpert sie eine Frau, die einerseits bei ihrer Arbeit in einem Hospiz Tag für Tag Menschen das Sterben erleichtert, andererseits durch eine falsche Entscheidung für das Leiden der Eltern des Unfallopfers verantwortlich ist. Jürgen Vogel sieht man in diesem Film einmal in einer ganz ungewöhnlichen Rolle: nämlich als untreuen Ehemann, den die Entscheidung seiner Frau ebenso stark verändert und nicht zuletzt dadurch dazu bewogen wird, einmal über sein eigenes moralisches Fehlverhalten nachzudenken. Das ewige Eis und die Schneelandschaften Norwegens fügen sich perfekt in dieses große deutsche Familiendrama ein, bei dem es einem vor emotionaler Kälte nur noch so fröstelt. „Gnade“ behandelt die großen Themenkomplexe um Moral und menschliches Versagen, Schuld und Sühne und stellt die mutige Frage nach Vergebung: Wie viel Schuld kann ein Mensch auf sich laden? Und: Was ist ein Mensch bereit zu verzeihen? Bei diesem Film handelt es sich ohne Frage um ein beeindruckendes und auch überaus philosophisches Psychodrama, das man sich in diesem Kinoherbst nicht entgehen lassen sollte.
4 KOMMENTARE
[…] Habe wieder mal meinem Jenaer Lieblingskino einen Besuch abgestattet und mir das Psychodrama “Gnade” angesehen. Passenderweise hat es gestern auch schon die ersten Schneeflocken geschneit. Der Film ging auf jeden Fall unter die Haut (Stichwort: emotionale Kälte). Mein Urteil lest ihr wie immer ausführlicher im Farbfilmblog. […]
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Ein sehr ergreifender Film um ein unausweichliches Dilemma zwischen zwei Menschen..
Sieht interessant aus!